» Wissenschaftsfiktion

…ein paar Gedanken zu Werken meines bevorzugten Generes.

WIR

Schon in alten Zeiten wussten die größten Geister, dass die Quelle der Wahrheit die Macht, die Wahrheit also eine Funktion der Macht ist.
- WIR, Evgenij Ivanovič Zamjatin

Dystopische und doch zumindest teilweise nahezu verlockende Beschreibung einer, in beiden Sinnen des Wortes gläsernen, Gesellschaft in welcher alle Aspekte des Lebens axiomatisch geregelt sind und welche Auswirkung - am Ende nicht der wirklichen Besserung dienender - chaotischer Widerstand auf eine solche Welt hat.

Gewisse Ähnlichkeiten zu 1984 und seinem Gegenstück Brave New World liegen darin begründet, dass WIR als Vorläufer dieser Werke gesehen werden kann. Dies spiegelt sich auch für mich als Laien klar ersichtlich in den Ähnlichkeiten der entwickelten Dystopien sowie der zentralen Stellung der menschlichen Sexualität wieder. An dieser Stelle drängt sich auch ein Vergleich zu This Perfect Day von Ira Levin auf.

[…] dass alles Unbekannte dem Menschen von Natur aus zuwider ist; der homo sapiens ist nur dann ein Mensch im vollen Sinne des Wortes, wenn es in seiner Grammatik keine Fragezeichen, sondern nur Ausrufezeichen, Punkte und Kommata gibt.
- WIR, Evgenij Ivanovič Zamjatin

Das Glasperlenspiel

Musik des Weltalls und Musik der Meister
Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören,
Zu reiner Feier die verehrten Geister
Begnadeter Zeiten zu beschwören.

Wir lassen vom Geheimnis uns erheben
Der magischen Formelschrift, in deren Bann
Das Uferlose, Stürmende, das Leben,
Zu klaren Gleichnissen gerann.

Sternbildnern gleich ertönen sie kristallen,
In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn,
Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen,
Als nach der heiligen Mitte hin.
- Das Glasperlenspiel, aus Josef Knechts hinterlassenen Schriften

Dieses Werk, welches, entgegen der Mehrheit der auf diesen Seiten erwähnten Schriftstücken, auch in der Literaturgeschichte große Bedeutung erlangt hat, laß ich im Verlauf von mehreren, sich glücklich mit meinem Einstieg in Latein im Rahmen einer Schlüsselqualifikation für mein andauerndes Mathematikstudium überschneidenden, Monaten. Während Hesse im Glasperlenspiel den Abschluss seines literarischen Schaffens beging, wählte ich es als meinen persönlichen Einstieg in seine Welt. Entstanden vor und während Deutschlands dunkelster Jahre drückt es die Lehren aus diesem noch heute anhaltenden, in der fiktiven Version des Jahres 2200 rückblickend als feuilletonistisch bezeichneten, Zeitalter in der Utopie eines der reinen Wissenschaftspflege verschriebenen Teilstaates Kastalien aus. Erkundet wird diese Utopie mittels der Lebensbeschreibung eines großen Vertreters dieser Kultur in Form des Magister Ludi Josef Knecht. Beim namensgebenden Glasperlenspiel, dessen Details über das gesamte Buch hinweg umschrieben bleiben, handelt es sich um eine der Welt enthobene reinste Wissenschaft, in welche beliebige Künste - seien es Werke der klassischen Musik, dem Autor besonders nah zu liegen scheinende östliche Philosophie, Mathematik oder Literatur - abgebildet und im Spiel zu neuen Zusammenhängen und Künsten verwoben werden. Die der, es sei an dieser Stelle erwähnt, schön gebundenen, Jubiläumsausgabe des Suhrkamp Verlags beigefügten Einordnungen erkennen dieses Spiel beispielsweise in Form der heutigen digitalen Informationsverarbeitung wieder. Die mir naheliegenste Interpretation ist definitiv die der puren Mathematik - ist es doch gerade diese, die es gestattet verschiedenste natürliche Erscheinungen zu formalisieren und aus diversen Perspektiven formal zu analysieren und in Beziehung zu setzen. Rückblickend erscheint mir das Glasperlenspiel jedoch mehr Aufhänger und Ausdruck der maximierten Entweltlichung der kastalischen Übergesellschaft als zentraler Inhalt des Werkes zu sein. Diesen verorte ich in der Vorstellung eines Kastaliens vereint mit der vorausschauenden Betrachtung wie eine solche Gesellschaft erhalten und am Ende trotzdem dem Untergang geweiht sein könnte. Eigentlich passiert über die Handlung hinweg nicht besonders viel - Josef Knecht tritt über die Eliteschule in die kastalische Ordensgemeinschaft ein, steigt in dieser zusehends in die höchsten Ränge auf, wirkt in jeden Hinsicht gewissenhaft und vorbildlich, verändert nicht viel, tritt aus dem Orden aus um sich seiner wahren, und für den Erhalt Kastaliens als weisend dargestellten, Leidenschaft der Erziehung junger, formbarerer Geister zuzuwenden und stirbt in bemerkenswerter Weise. Eine Rechtfertigung seines Charakters als wohl größten aller Glasperlenspieler erfahren wir nur aus zweiter Hand und nie direkt, sein Einfluss auf die Zukunft des Ordens bleibt undefiniert und lediglich eine unrealisierte Möglichkeit. Und doch übt Hesses Glasperlenspiel auf mich eine große Faszination aus, die ich mir nicht vollständig erklären kann. Der bloße Eindruck als Ausdruck gesellschaftlicher Science Fiction in deutscher Literatur scheint mir da nicht auszureichen, obgleich der Idee eines Kastaliens ohne Frage eine besondere Faszinationskraft zu eigen ist. Meinen Einstieg in die Werke von Hermann Hesse werde ich bei Gelegenheit mit dem Steppenwolf fortsetzen, das Glasperlenspiel macht in jedem Fall Lust auf mehr dieser Art von Literatur.